Der Schlüssel zur Welt droht zu klemmen
Sprachförderung bei Kitas in Gefahr
Vechta, 2. September 2022
Das Smartboard ist schon angeschaltet, doch die angehenden Erzieherinnen schauen im Unterricht an der BBS Marienhain erst Bilderbücher an.
Mit ihrer Lehrerin Sarah Unland besprechen sie die Bilder und Texte. Wie ansprechend sind die Bilder, wie verständlich die Texte? „Was meint ihr, für welche Altersklasse wäre das was?“ Wie können Kinder altersgerecht an Bilderbücher geführt werden? Selber umblättern lassen, Kinder mit Namen ansprechen, sie nicht überfordern. Bilderbücher sind der Einstieg zum Lesen, und Spaß am Lesen ist eine wichtige Voraussetzung für eine gute Sprachentwicklung. So einfach ist das.
Sarah Unland bespricht mit den angehenden Erzieherinnen Bilderbücher
Foto: © Heuer
Leider nicht immer. Viele Kinder werden zuhause nicht mehr zum Lesen angeleitet und bekommen nur ungenügende Sprachförderung. Die BBS Marienhain legt daher bei ihren angehenden Erzieherinnen und Erziehern viel Wert auf Sprachförderung. 2016 hatte auch der Bund die Notwendigkeit erkannt und unter den Namen „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ ein milliardenschweres Programm zur Sprachförderung in Kitas aufgelegt. In ca. 6.900 Kitas konnten damit fast 7.500 Fachkräfte bezahlt werden. Teilweise haben dafür Erzieher Zusatzausbildungen gemacht und ihre Arbeit aufgestockt, teilweise wurden neue Fachkräfte oder Quereinsteiger gewonnen. Die BBS Marienhain hatte vor drei Jahren ein eigenes Modul zur Sprachförderung eingeführt. „Nach zwei Jahren bekommen unsere Absolventinnen ein Zertifikat als Fachkraft für frühkindliche Sprachbildung und Sprachförderung. Das können sie ihren Bewerbungen als interessante Zusatzqualifikation beilegen,“ sagt die zuständige Fachbereichsleiterin Andrea Lorentz.
Programm soll auslaufen
Inzwischen aber schlägt die Fachwelt Alarm. Denn die Bundesregierung hatte im Sommer beschlossen, das Programm zum Jahresende auslaufen bzw. von den Ländern weiterführen zu lassen. Doch die haben dafür kein Budget vorgesehen. Auch an der BBS Marienhain sieht man die Gefahr. Sollte die bisherige Sprachförderung auslaufen, würde ihre Wichtigkeit deutlich abnehmen, warnt Lorenz. So einfach mitlaufen könne sie im Kita-Alltag nicht. „Der normale pädagogische Alltag lässt keine Sprachförderung im nötigen Maße zu. Viele Kinder brauchen z.B. wegen einer Sprachentwicklungsstörung oder ihres Migrationshintergrundes ständig Wortschatzerklärungen.“
Auch die zunehmende Digitalisierung sei eine Ursache für Verzögerungen in der Sprachentwicklung, ergänzt Sarah Unland. Die Besonderheit der Sprache zu erkennen gehe über die digitale Welt oft völlig verloren. „Mit Computerspielen und Apps sind die Kinder zwar ständig beschäftigt – aber ohne Sprache,“ macht Lorentz deutlich. „Die Kinderwelt von heute braucht das gute Sprachvorbild und die zusätzliche Förderung, weil etwas verpasst worden ist in der ersten Entwicklung.“ Dafür brauche es eigene Fachkräfte und zusätzliche Stundenkontingente. Wenn man in der Basis nicht investiere, ziehe sich das Problem weiter in die Schule und Ausbildung, warnen die beiden.
Diese Sorge teilen auch die angehenden Erzieherinnen Elena Grieshop und Julia Mergelmeyer. Grieshop will nach ihrem Abschluss in der stationären Jugendhilfe arbeiten. „Wenn man Jugendgruppen begleitet, ist es wie in jedem Elternhaushalt wichtig, alltagsbegleitend ein gutes Sprachvorbild zu sein,“ sagt sie. Julia Mergelmeyer möchte in einer Kita arbeiten. „Dort begleite ich alles sprachlich, was ich mache. Das ist unfassbar wichtig.“ Daher versichert Andrea Lorentz auch: „Selbst, wenn das Programm keine Neuauflage erlebt, wird das Thema Sprache immer ein wichtiger Bestandteil unserer Ausbildung bleiben.“
Für den Erhalt des Förderprogramms gibt es eine Petition an den deutschen Bundestag (www.sprachkitas-retten.de). Bis zum 20.9. kann sie online oder in Listen unterschrieben werden.
Ludger Heuer